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Kunst
gibt nicht das Sichtbare wieder,
sondern macht sichtbar.
Paul Klee, 1920
Vitus
H. Weh
Kunst
als Sehhilfe
(Auszug)
Mit einer
simplen Spiegelvorrichtung ist der Medizin ein verblüffender Beweis
gelungen: Sobald man die Augen absolut stillstellt, "erblinden"
sie. Man hat also herausgefunden, daß die menschliche Netzhaut nur
auf Reizänderungen reagiert. Geschieht nichts Neues, wird auch das
Gleichbleibende nicht mehr gesehen.
Im Grunde läßt sich dieses Experiment gut auf unseren Alltag
übertragen: Kennt man Dinge lange, werden sie unsichtbar. Man wird
unempfindlich und gewöhnt sich an alles. Irgendwann hört man
sogar Lärm nicht mehr.
Vor solchen Ermüdungen zu schützen, ist heute eine der wichtigsten
Aufgaben der Kunst. Während es für die Behübschung des
Alltags zum Beispiel auch noch Blumenbeete gibt, und um die Seele baumeln
zu lassen, Urlaub, Zirkus, Sport und die Kirchen, taugt zur Aufrechterhaltung
der Wahrnehmung meist nur der Verzicht auf Alkohol und eben der Einsatz
von Kunst.
Als beispielsweise das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude den
Berliner Reichstag im Juni 1995 mit silberner Folie verhüllen durften,
machten sie ihn für unzählige Leute tatsächlich erstmals
sichtbar. Erst der "verpackte Reichstag" ließ Millionen
darüber nachdenken, welche Geschichte mit
diesem Gebäude verbunden und welche Zukunft zu erhoffen ist. Zu einem
ähnlichen Effekt führte im gleichen Jahr der Holzsteg, der in
einigen Metern Höhe den Hauptplatz von Wiener Neustadt überspannte.
Auch dies war ein temporäres Werk, erbaut von Tadashi Kawamata, einem
japanischem Künstler, und seinem Team. Vom Hochsteg aus war es plötzlich
möglich, einen veränderten Blick auf den altbekannten Platz
zu werfen und neue Perspektiven zu entdecken. (1)
Die Oberwarter "Schnee Stock Parade" von Andreas Lehner bietet
in einem kleineren Rahmen eine ganz ähnliche Chance: Natürlich
geht es auch um die visuelle Wirkung der Stöcke, um das Streifenmuster
der langen Spalierreihen, die Häufungen an bestimmten Stellen, die
Illuminationen bei Nacht usw. Ganz wesentlich ist jedoch der Faktor, wie
die Stadt als Lebensraum dadurch neu sicht- und lesbar wird. Kunst kann
in solchen Fällen wie ein Katalysator funktionieren: So wie Dinge
in einen Katalysator hineingehen und anders wieder herauskommen, so versucht
auch die Kunst, kreative Reaktionen möglich zu machen und auszulösen.
Eine so verstandene Kunst bearbeitet also gleichsam den imaginären
Raum, von dem aus konkrete Handlungen denkbar werden. Lehners Markierungen
im Stadtbild von Oberwart sind insofern zu gebrauchen wie Unterstreichungen
in einem Text: eine Markierung hebt Stellen hervor - lesen und interpretieren
muß diese aber jeder einzelne. Konkret vor Ort heißt dies,
daß für kurze Zeit alle Anwohner und täglichen Nutzer
die Chance haben, all die Umstände, mit denen man sich über
die Zeit "abgefunden" hat, als veränderbare Möglichkeitsformen
wahrzunehmen. Tatsächlich ist es ja so, daß das Gebiet, das
Andreas Lehner mit seiner "Schnee Stock Parade" (2)
markiert hat, für Oberwart zwar zentral ist, wie es als gemeinsamer
Lebensraum am besten zu nützen ist, aber endlich neu verhandelt werden
müßte.
Sich
in die Diskussionen einzumischen, sind aber alle aufgefordert.
1
Für weitere Beispiele künstlerischer Projekte im Zuge von städtischen
Umbauten siehe meinen Beitrag "Auf der Baustelle", in: Markus
Wailand, Vitus H. Weh (Hg.), Zur Sache Kunst am Bau. Ein Handbuch. Wien
1998, S.158-167.
2
Daß der Schneestock für diesen weiterführenden Ansatz
einer "Kunst im öffentlichen Raum" gleichzeitig eine
solch passende Metapher ist, ist ein wunderbarer Mehrwert am Rande: haben
doch Schneestöcke die Aufgabe, Straßen und gangbare Wege sichtbar
zu halten ? selbst wenn hoher Schnee oder Verwehungen die Augen und Sinne
blind zu machen drohen.
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