schnee stock parade
deutsche Fassung
snow stick parade
english version
 
Oberwart 1998
 
 
texte:
peter nesweda 
franz niegelhell
vitus h. weh
parade
 
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 Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, 
sondern macht sichtbar. 
Paul Klee, 1920 

Vitus H. Weh

Kunst als Sehhilfe
(Auszug)

Mit einer simplen Spiegelvorrichtung ist der Medizin ein verblüffender Beweis gelungen: Sobald man die Augen absolut stillstellt, "erblinden" sie. Man hat also herausgefunden, daß die menschliche Netzhaut nur auf Reizänderungen reagiert. Geschieht nichts Neues, wird auch das Gleichbleibende nicht mehr gesehen. 
Im Grunde läßt sich dieses Experiment gut auf unseren Alltag übertragen: Kennt man Dinge lange, werden sie unsichtbar. Man wird unempfindlich und gewöhnt sich an alles. Irgendwann hört man sogar Lärm nicht mehr. 
Vor solchen Ermüdungen zu schützen, ist heute eine der wichtigsten Aufgaben der Kunst. Während es für die Behübschung des Alltags zum Beispiel auch noch Blumenbeete gibt, und um die Seele baumeln zu lassen, Urlaub, Zirkus, Sport und die Kirchen, taugt zur Aufrechterhaltung der Wahrnehmung meist nur der Verzicht auf Alkohol und eben der Einsatz von Kunst. 
Als beispielsweise das Künstlerpaar Christo und Jeanne-Claude den Berliner Reichstag im Juni 1995 mit silberner Folie verhüllen durften, machten sie ihn für unzählige Leute tatsächlich erstmals sichtbar. Erst der "verpackte Reichstag" ließ Millionen darüber nachdenken, welche Geschichte mit 
diesem Gebäude verbunden und welche Zukunft zu erhoffen ist. Zu einem ähnlichen Effekt führte im gleichen Jahr der Holzsteg, der in einigen Metern Höhe den Hauptplatz von Wiener Neustadt überspannte. Auch dies war ein temporäres Werk, erbaut von Tadashi Kawamata, einem japanischem Künstler, und seinem Team. Vom Hochsteg aus war es plötzlich möglich, einen veränderten Blick auf den altbekannten Platz zu werfen und neue Perspektiven zu entdecken. (1) 
Die Oberwarter "Schnee Stock Parade" von Andreas Lehner bietet in einem kleineren Rahmen eine ganz ähnliche Chance: Natürlich geht es auch um die visuelle Wirkung der Stöcke, um das Streifenmuster der langen Spalierreihen, die Häufungen an bestimmten Stellen, die Illuminationen bei Nacht usw. Ganz wesentlich ist jedoch der Faktor, wie die Stadt als Lebensraum dadurch neu sicht- und lesbar wird. Kunst kann in solchen Fällen wie ein Katalysator funktionieren: So wie Dinge in einen Katalysator hineingehen und anders wieder herauskommen, so versucht auch die Kunst, kreative Reaktionen möglich zu machen und auszulösen. Eine so verstandene Kunst bearbeitet also gleichsam den imaginären Raum, von dem aus konkrete Handlungen denkbar werden. Lehners Markierungen im Stadtbild von Oberwart sind insofern zu gebrauchen wie Unterstreichungen in einem Text: eine Markierung hebt Stellen hervor - lesen und interpretieren muß diese aber jeder einzelne. Konkret vor Ort heißt dies, daß für kurze Zeit alle Anwohner und täglichen Nutzer die Chance haben, all die Umstände, mit denen man sich über die Zeit "abgefunden" hat, als veränderbare Möglichkeitsformen wahrzunehmen. Tatsächlich ist es ja so, daß das Gebiet, das Andreas Lehner mit seiner "Schnee Stock Parade"  (2)  markiert hat, für Oberwart zwar zentral ist, wie es als gemeinsamer Lebensraum am besten zu nützen ist, aber endlich neu verhandelt werden müßte. 

Sich in die Diskussionen einzumischen, sind aber alle aufgefordert. 

1       Für weitere Beispiele künstlerischer Projekte im Zuge von städtischen Umbauten siehe meinen Beitrag "Auf der Baustelle", in: Markus Wailand, Vitus H. Weh (Hg.), Zur Sache Kunst am Bau. Ein Handbuch. Wien 1998, S.158-167. 

2       Daß der Schneestock für diesen weiterführenden Ansatz einer "Kunst im  öffentlichen Raum" gleichzeitig eine solch passende Metapher ist, ist ein wunderbarer Mehrwert am Rande: haben doch Schneestöcke die Aufgabe, Straßen und gangbare Wege sichtbar zu halten ? selbst wenn hoher Schnee oder Verwehungen die Augen und Sinne blind zu machen drohen. 
 

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