Susanne Fuchs-Nebel 
 
 
 
 
 

Geschützt - Ausgesetzt - Unbehaust 
 
 
 
 
 
 

Zu der Skulpturenreihe "shelter" von Andreas Lehner 

Das Ende der großen Erzählungen wird im gegenwärtigen Spätkonzeptualismus der Kunst in aller Pathetik noch einmal zelebriert. Der Marktplatz junger Kunst erlahmt in seinen Theoremen der Referenzialität bis zur quälenden Langeweile. 

All diese Werke, die zur Zeit am Forum der zeitgenössischen Kunst zirkulieren, halten die Dynamik des Kunstmarktes und die Diskussion um Kunst aufrecht. 

So mancher junge Künstler sucht sich dem hektischen Treiben der Verteilungsbetriebe zu entziehen und errichtet eine Schutzmauer aus spätromantischer Privatheit. 

Andreas Lehner thematisiert und reflektiert dieses Außenseitertum, indem er das Abseitsstehen, den Rückzug in einen Schutzraum in das aktuelle Kunstgeschehen einbezieht. 

Er thematisiert in seinem umfangreichen Projekt "shelter" (Plastiken, Malerei, grafische Blätter) gerade jene Schutzhaut, die nicht nur aus einer unmittelbaren Lebenserfahrung und Rezeption der Wirklichkeit entsteht, sondern durchaus universalen, kulturanthropologischen Anspruch erhebt. 

Ausgangspunkt für die plastischen Arbeiten ist die Erfahrung von Geborgenheit im Tipi. Das Tipi, von nordamerikanischen Indianern ehemals bevorzugte Holzkonstruktion, mit Lederhäuten abgedeckt, das als architektonische Hausform bei nomadisierenden Völkern auf der ganzen Welt zu finden ist. 

Die Plastiken und deren Entwürfe gehen von einer reduzierten Formensprache aus. "shelter" - Geborgenheit als Metapher für das individuelle Schutzbedürfnis. 

Das Arbeitsmaterial für die Plastiken zu "shelter" ist in der Hauptsache Holz, genauer gesagt Bauholz. Im Zusammenhang mit den Plastiken verweist es immer auf Konstruktion, Architektur, wobei der Gerüstcharakter von Bauholz hier bewußt eingesetzt wird. Das Bauholz wird seinem funktionalen Zusammenhang (Baugewerbe) entrissen und in einen neuen Kontext gebracht. Die Methoden dieser Kontextualisierung sind unterschiedlich. Holz wird zersägt und wieder zusammengesetzt, in weiteren Schritten mit Hacken und Schnitzeisen so bearbeitet, daß Aushöhlungen entstehen. Feuer spielt eine zentrale Rolle beim Arbeitsprozeß, bei dem die ausgehöhlten Holzstrukturen ausgebrannt werden. So legt der Ausbrand graphische und organische Strukturen frei und läßt hinter dem desfunktionalisierten, rohen Baumaterial die von Menschenhand bearbeitete Schutzkonstruktion entdecken, der "zivilisierte Zustand". 

Die Aushöhlungen lassen hinter der Prosa der aus dem Kontext gerissenen Bausubstanz die Poesie der Geburt des bearbeiteten Gegenstandes entdecken. 

Andreas Lehner geht den Dingen auf den Grund. Er "untersucht", "überprüft", "präzisiert". Er ist ein Spurensucher und ein Konstrukteur, doch seine Konstruktionen nehmen nicht nur auf physische Gegebenheiten - die Architektur im weitesten Sinne - Bezug. 

Psychische Determiniertheit, verdrängte Aspekte der Wirklichkeitserfahrung, das Empfinden des Ausgesetztseins im Sinne einer existentialistischen Weltschau, sie bedingen eine gedankliche Auseinandersetzung des Künstlers, wobei isolierend, messend, kommentierend, dokumentierend und manipulierend überprüft wird. Aus der Überprüfung resultiert das Werk (Andreas Lehner). 

Shelter Nr. 1, "Burned Wood": Das verwendete Bauholz gibt einen Hinweis auf den Gerüstcharakter der Plastik. Es kann als tragende Grundkonstruktion, um das herum ein Gebäude, ein "shelter" errichtet wird, verstanden werden. Dabei dachte Andreas Lehner an psychische Konstruktionen, die die Welt zu erklären versuchen. Annäherungen an die Wirklichkeit, die dem Überleben dienen und die von Faktoren wie Kultur, Religion,, Zeit, persönlicher Disposition abhängig sind. 

Die Durchlässigkeit, Dichte oder Verdichtung ist ein Motiv, das in den Arbeiten von Andreas Lehner schon seit Jahren immer wieder thematisiert wird. Die Plastiken zu "shelter" vollziehen eine konsequente, evolutive Entwicklung. 

Weisen die frühen Arbeiten des "shelter" noch eine undurchlässige Kompaktheit auf, das Holz wurde unter Zuhilfenahme von Schnitzeisen bearbeitet und mit dem Schweißbrenner organische Formen freigelegt, so brechen nun die Plastiken auf, öffnen sich, offenbaren ihre innere Struktur und lassen die Aussenwelt, die Zwischenräume, die Zwischenwelten erahnen. Hermetik und Dichte, Durchlässigkeit und Unbehaustsein. Die Plastik von Andreas Lehner konfrontiert den kosmopolitischen Betrachter in erschreckender Weise mit selbstkonstruierten häuslichen Kerkern, wo die Ordnung des Stillstandes, die Unbewegtheit, regiert. Das Aufbrechen der Mauern, der Ausbruch aus dem "shelter" erscheint als einzig mögliche Konsequenz - die Vieldeutigkeit und die Mobilität, neue Wege und Fährten, ihnen folgt der Betrachter spurenlesend, voller Neugierde auf kommende Verschränkungen und Bündnisse. Auf das Ausgestoßensein, das Abseitsstehen in der Gesellschaft reflektiert und reagiert dieser Künstler. 

Die Territorien der geistigen Nomaden sind die Zwischenräume, die Randzonen. Nicht die Schutzkonstruktion, das "shelter", ermöglicht den Erfahrungshorizont zu erweitern, im Sinne einer in rationale Begriffe geteilten Welt, einer "in Besitz" genommenen Welt, sondern die unbehauste Seele, die ihre eigene Unruhe, Sensibilität und Intensität lebt, spurensuchend, sich die Freiheit erhaltend, erweitert die Grundkonstanten des heutigen Menschen. Eine Durchlässigkeit auch des Denkens, welches die Randgebiete, die kritischen Räume und unbestimmte Gelände zu ihren Territorien erklärt. Orte der Verwandlung und der Produktion, das sind die Räume, die sich in der neuen Durchlässigkeit der Plastiken Andreas Lehners abzeichnen. 

1992

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